27. Dezember 2018
Kolumne von Andreas Bürgel
Auf Facebook am 25. Dezember 2018
Diese Tage lassen etwas Zeit, in der Gegend herum zu lesen. Journalhopping. Und mein Blick bleibt gleich an einem Satz hängen: „Wussten Sie, dass Sie günstigen Wein mit einem einfachen Trick in einen erstklassigen Rebensaft verwandeln können?“ Klingt, als hätte jemand aktuell die Feiertagsmythen verwechselt – Weihnachten-Ostern, Plörre in Wein verwandeln statt Scrooge in Scrooge -, also ganz meine Kragenweite und so lese ich weiter. Und erfahre von einer bewähr-ten Methode, die „Weinliebhaber aus aller Welt fasziniert“: „schütten Sie einfach den Wein in den Mixer und warten einige Sekunden bis der Wein aufschäumt“.
Das Ergebnis: der versprochene „erstklassige Reben-saft“. Vorbei die Zeit geleerter Haushaltskassen und mehrstelliger Rechnungen aus dem Weinladen. Einfach eine „günstige Flasche Wein für 2 bis 5 Euro“ aus dem Supermarkt gekrallt und dem Zeug ein paar flotte Mixerrunden gegönnt. Fertig ist ein exorbitanter Jubelstoff. So ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis Clos Rougeard vom Markt verschwindet und Gantenbein pleitegeht. Aber halt, wer sagt denn, dass nicht auch die durch ein wenig fliehkräftige Schaummixerei noch besser werden? Wo ist gleich unser Mixer hin, ich muss das mit diesem Rebholz hier testen. Und - wenn ich schon dabei bin, warum bei Wein haltmachen - auch mit den drögen Keksen und der gelsterigen Cervelatwurst aus Tante Gretas Weihnachtsfresspaket.
Andress Bürgel ist Musiker, Kolumnist, Weinliebhaber. Er hat als Kolumnist auch für Vinum gearbeitet und hier Kolumnen veröffentlicht.
28. Juli 2012
Zur Person und zur Kolumne
Andreas kenne ich nun schon seit mehr als 10 Jahren. Damals - in den Anfängen von wein-plus.de - haben wir uns "virtuell" getroffen. Seine prägnannten Texte zum Thema Wein - seine wunderschönen Essays - sind nicht nur mir aufgefallen. Andreas erhielt - ich glaube es war das dritte "Grosse Treffen" - den Weinnasenpreis für seine kreativen Beiträge auf wein-plus. Dann ist auch er bei wein-plus ausgestiegen. Es wurde rauher, kommerzieller, unpersönlicher im damaligen Forum, und dies behagte ihm - und vielen anderen - nicht. Ich habe Andreas - den Musiker und Feuilletonisten - aus den Augen verloren, bis ich ihn kürzlich bei weinfreak.de wieder getroffen habe. Noch immer sind seine Betrachtungen lesenswert, mehr noch, es sind kleine "Kunstwerke". Und so sind wir übereingekommen, dass ich jede Woche - jeden Montag - hier auf meiner Homepage eine seiner ziselierten Gedanken einstelle, als regelmässige Kolumne. Dazu hänge ich eine Blog an, in welchem die Texte kommentiert werden können. Ich wünsche allen so viel Vergnügen, wie die Texte mir bereiten.
Peter Züllig
04. August 2017
Aufgeschnappt auf Facebook
auf Facebook 03. August 2017
Glosse von Andreas Bürgel (Musiker, Kolumnist im "Vinum")
"Die nette Bäckereiverkäuferin nimmt die Münzen aus der Kasse, zählt noch einmal kurz nach, langt über den Tresen und lässt das Wechselgeld aus ihrer mattweißen Hand in die meinige fallen. „Latex-Handschuhe?“, frage ich, „das ist neu.“ „Wegen der Hygiene“ nickt sie, ein wenig stolz, und packt auch schon die Feierabendbrötchen für den nächsten Kunden ein. Auf der Fahrt nach Hause spielt das Autoradio Joe Walsh. „Life of illusion.“
Und jetzt sag du nochmal, das Radio sei googlefrei.
Vor fünf Jahren - noch vor Vinum - habe ich hier auf sammlerfreak.ch eine ganze Reihe der Wein-Kolumne von Andeas Bürgel eingestellt. Sie schienen mir besonders gut und treffsicher zu sein. Nach
einem Jahr habe ich die Seite eingestellt - weil sie kaum Resonanz hatte. Ich habe es damals nicht begriffen und begreife es heute noch nicht.
Hier die damaligen Kolumnen im Archiv
14. April 2013
Kolumne von Andreas Bürgel im Vinum Nr. 14
26. Dezember 2012
Comeback
17. Dezember 2012
Mythos
Wein ist nie so groß wie sein Mythos, Unbehagen in der Kultur hin oder her.
Am Mythos von dem hier wird allerdings noch gestrickt. Und da die sagenumwobene Alte Frau hier besonders viel stricken muss, ist der auch - noch - besser.
Ein sagenhafter Trunk.
Olivier Bernstein, Meursault "Les Charmes" 2009.
10. Dezember 2012
Anfangszauber
8. Dezember 2012
Bald ist Weihnacht
19. November 2012
Komplettausstattung
Einmal die Komplettausstattung, bitte:
Hocharomatisch, reife Beerenfrucht, bestens differenziert, voller Nuancen, feines Tannin, Nachhall, Länge.
Venta d'Aubert, Syrah 2005.
(Dorst inside #1)
12. November 2012
Für einmal keine Weinkolumne:
Eine Rose ist eine Rose
06. November 2012
Wo sich die Geister scheiden
von Andreas Bürgel
29. Oktober 2012
Zeit
von Andreas Bürgel
Zeit ist die stetige Entfernung des Jetzt vom Damals.
Gelegentlich lassen sich Sprungstellen markieren.
Die hier ist eine für mich überraschende:
Irouléguy "Tradition" von Arretxea 1997 und 2010.
Eigenständig. Ein wenig ruppig. Auch der Vorfahr.
22. Oktober 2012
Geheimnis
von Andreas Bürgel
Über Wein zu schreiben, ist nicht immer leicht.
Zum einen ist das meiste schon irgendwann mal irgendwo gesagt. Zum anderen verführt Wein - und hier besonders der gute - zu Überzeichnungen.
Besonders schwer ist das Schreiben über Wein aber wenn man ihn verkaufen möchte. Dass sich hier der eine oder andere Texter vergalloppiert ... wer hat's nicht schon selbst gelesen. Und
dass so etwas auch hochprofessionalisierten Unternehmen passiert beweist eine aktuelle Aussendung, aus der der Beitrag auf diesem Bild stammt.
15. Oktober 2012
Stofftaschentücher
von Andreas Bürgel
Stofftaschentücher. Der Mitbringselklassiker der 70er. Später dann Schüttelglaskugeln mit Irgendwas unter Dauerpseudoschnee. Die konnte man wenigstens nach jemandem werfen. Schließlich Doppelstockpralinengroßpackungen, deren fondantgefüllter Inhalt mit schmerzhafter Süße effektvoll seiner Bestimmung, dein Zäpfchen zu verätzen, nachging. Dabei ist sie doch gar nicht so schwer, die Mitbringselfrage.
So ein "L'Esprit" hier zum Beispiel: passt in jede Handtasche und wiegt deutlich weniger als ein Incredible-Hulk-Gartenzwerg oder ein Briefbeschwerer aus irgend einem Mauerwerk.
Den Zweitwein nimmt dem keiner ab.
Kräuterdurchwirkt, von Zitrusfrüchten bespaßt, spontan, mineralisch, mit Statur und Spiel ausgestattet. Komplett mit Nachhall und allem.
Und auch das Übereichen auf Türschwellen klappt handlingmäßig tadellos.
07. Oktober 2012
Alles hat seinen Preis
von Andreas Bürgel
"Politiker sind wie Chianti. Sie haben ihren Preis – und der ist nicht von Pappe – oder sie taugen nichts", hatte mein Kumpel gesagt und vervollständigt: "die Nichtkäuflichen sind nur deshalb nicht käuflich, weil sie es einfach nicht drauf haben und ihnen deshalb auch nichts angeboten wird."
Nun, ich persönlich halte das für kulturpessimistischen Blödsinn.
Denn natürlich gibt es Ausnahmen.
Dieser Majnoni Guicciardini zum Beispiel.
Nein, kein Politker.
Aber ein Chianti aus 2008 für irgendetwas um 8 Euro – und dafür ein kompletter Wein.
01. Oktober 2012
Nichts auszusetzen
von Andreas Bürgel
24. September 2012
Kaum noch Produkte ohne Bedienungsanleitung
von Andreas Bürgel
Kaum noch Produkte ohne Handreichung, Tipps, Bedienungsanleitung. Und wo darauf verzichtet wird, geht es meist prompt schief: ins Auge
springend die große Zahl der unter Zwanzigjährigen, die in der Handhabung von Schirmmützen und Schnürbändern kenntnislos gelassen nun ungeschützt vor den spöttelnden Blicken gehässiger Mitbürger
durch die Straßen ziehen müssen. Nein, das muss nicht sein, Handbücher hätten hier das Schlimmste verhindern können.
Als vorbildlich ist daher ein Getränkehersteller und dessen kundenorientierte Nutzung des Flaschenrückenetiketts hervorzuheben: "Tipp! Genießen Sie unseren Apfelsaft als erfrischendes Getränk!"
Da wird nichts dem Zufall überlassen.
Der Weinflasche hier mangelt es allerdings auch an einem Anleitungstext. Kein: "genießen Sie diesen intergalaktisch gefeierten Wein zu allen Fleisch- und Fischgerichten sowie zur klingonischen
Küche", keine Kühlungsanleitung mit Celsiuswerten nahe dem Gefrierpunkt, nicht mal der Hinweis: "ein Küchenmeister ist kein Frittengesell". Nackt und bloß kommt die Flasche aus der Kiste. Doch
dieses Defizit ist auch der einzige für mich erkennbare Mangel hier:
Nuancenreich in der Nase, gelbe Früchte ([Brat-]Apfel, Quitte, Birne, unreife Mirabelle), florale Noten, klare Mineralik, Noten von Zitrusschale.
Im Mund bei großer Vitalität Schmelz, die Nase wird bestätigt, vielschichtig, noch recht kompakt, spielerische Säure, lang. Perspektive.
Manchmal erschließen sich die Dinge eben doch von ganz alleine …
Paul Weltner, Rödelseer Küchenmeister Sylvaner GG 2009.
17. September 2012
Nicht immer ist es der materielle Wert, der zählt.
von Andreas Bürgel
Nimm eine Nuss-Nougat-Creme.
Eine Masse aus Zucker und Fett, mit ein paar Aromen aufgepeppt und von Emulgatoren zusammengehalten. Enthält einen läppischen Haselnuss-Anteil von etwa einem Zehntel und einen noch geringeren an
billigem Kakaopulver. Ein paar Cent für die Herstellungskosten. Aber als Symbol steht das Zeug unbezahlbar für ein hehres Gut, kannst du mir glauben. Für die Meinungsfreiheit nämlich. Ohne die
müsste der Hersteller die Masse "Zucker-Fett-Paste" nennen; da er aber der Meinung ist, "Nuss-Nougat-Creme" klinge irgendwie doch ein wenig vorteilhafter …
Klar gibt es noch andere Meinungsfreiheitssymbole: "Rhythm & Blues" aus den Charts, "Kaviarcreme" aus der Tube, "Spargelcremesuppe" aus der Tüte. Und der "ausdrucksvolle, sortentypische
Spätburgunder mit Charakter und Länge" für €4,55 vom Discounter.
Kein Symbol ohne Gemeinde, frage nicht. Ebenso wie der Schützenbruder dir umgehend einen Satz heiße Ohren verpassen wird, wenn du ihm eine schön glänzende Sardinenbüchse statt seines Blechordens
an die Brust heften willst (obwohl die Sardinenbüchse vom materiellen Wert her deutlich besser dasteht, als die in Taiwan gestanzten Klimperdinger), ist dir das Watschengewitter sicher, solltest
du es wagen, der Gemeinde etwas anderes als Tütensuppe & Co anzudrehen. Deshalb werde ich auch den Teufel tun und diesen Spätburgunder hier einfach für mich behalten:
Fürst, Spätburgunder Centgrafenberg 2009.
Punch, Eleganz, Kondition, Überzeugungskraft.
Irgendwie auch der – ein Symbol …
10. September 2012
So etwas kann reklamiert werden
von Andreas Bürgel
Eigenschaften, die zugesichert wurden oder zu erwarten sind.
Kannst du die nicht finden - wie sehr du etwas auch drehst und wendest - so ist es nicht das Etwas, das es sein sollte. Ein Pinocchioprodukt, ein Nixonartikel, ein Münchhausenseller, ein
Armstrongfabrikat.
So etwas kann reklamiert werden.
Das gilt eigentlich für fast alles. Nur Politiker sind die Ausnahme - die dürfen zusichern, erwarten darfst du aber nichts. Sofortiger Umtausch ausgeschlossen. Ansonsten aber: Nachlieferung,
Nachbesserung, Rücktritt vom Kauf, Minderung.
Eine gewisse Leidenschaft auf diesem Gebiet hat ein Kumpel von mir entwickelt. Ein Stück Nussschale in einer Nuss-Nougat-Waffel, ein nicht deklariertes Partikelchen Paprika im Gewürzgurkenglas,
Füllhöhenschwäche einer Getränkeflasche... Kaum ein Produzent, der keine eMail von ihm erhielt. Und kaum ein Produkt, das er nicht postwendend ersetzt bekam. Zuzüglich Schlüsselring,
Flaschenöffner, Aufkleber oder Baseball-Käppi mit Firmenlogo als Trösterchen.
Nicht ganz so glatt sollte mir das gelingen als ich jüngst eine per Versandhandel erworbene Flasche Wein mit dem vermaledeiten TCA reklamierte: wohl würde man aus Kulanz die Flasche tauschen aber
zuvor müsste der Erweis des Fehlers erbracht werden. Auf meine Kosten. Konkret: Rücksendung der reklamierten Flasche in einer von mir zu bezahlenden sicheren Transportverpackung; Porto geht
ebenfalls auf mich. Summasummarum an die 9 Euro. Plus Zeitzuschlag für das Aufsuchen der nächsten Paketstation. Das erschien mir nicht adäquat – der Händler bedauerte. Ende dieser
Geschichte.
Anfang einer neuen: gekauft wird ab jetzt entweder nur noch korklos oder aber bei Händlern, deren Handhabung dieses Problems kundenorientierter ist.
Akt eins: Muskateller von Ziereisen (Dreher) von 2011.
Muskatnote, Lychees, Rosentouch, Mandarine. Schlank, rank, nicht riesig lang.
Aber spielerisch, unmittelbar ansprechend und ideal für das nächste Dim-Sum-Picknick unterm Papierschirm. Oder als mobiler Indoorpool-Ersatz im Sommer.
Akt zwei: ein aromatischer, mit etwas Luft sogar hocharomatischer Spätburgunder*** vom Zehnthof Luckert aus dem Jahr 2007 (ebenfalls Dreher).
Reife, pralle Kirschen tummeln sich mit Schlehen und einem Zweig Thymian im Glas. Dunkle Beeren. Ein Mittelgewicht mit Läufermuskeln. Feines Tannin mit moderatem Griff. Schönes Aromenspiel,
zirkuliert mit der Atmung, gute Länge, stabiler Abgang.
So etwas nenne ich einen guten Anfang einer Geschichte mit Eigenschaften, die zu erwarten sind …
03. September 2012
Die Meg Ryan zum Beispiel
von Andreas Bürgel
Die Meg Ryan zum Beispiel. Die taucht in ihrer ersten Szene irgendeines Films auf und du weißt, obwohl du den Streifen zum ersten Mal siehst sofort, was es mit ihrer Rolle auf sich haben
wird.
Festgelegt. Auf ein Rollenfach. Wie Bogart. Edward
G. Robinson (der junge). Louis de Funes. Viele andere.
Positiv überraschend, nicht selten sogar überzeugend wird es, wenn einige von denen sich plötzlich anders verorten. Clint Eastwood in "Erbarmungslos", John Travolta in "Pulp Fiction", Sean
Connery in "Der Name der Rose".
Nicht selten passiert Typecasting auch bei Wein. Dem Sauvignon, beispielsweise, wird oft genug das Rollenfach "exotisch mit Grün und Pfiff" auferlegt. Nicht ganz zu Unrecht, sagen einige.
Schön aber, dass er auch anders kann.
Der "Sauvignon – di Lieben Aich – 2010" von Manincor kommt beispielsweise so ganz ohne Grün aus. Und der Pfiff? Hier wird präsent agiert, energiereich und vielschichtig - vordergründige Witzchen
überlässt man anderen, nichts wirkt Aufdringlich. Exotik ist erspürbar; womit schon gesagt ist, dass er die Fruchtrampensaurolle höflich ablehnt. Eher schon geht es ihm um mineralische
Inszenierungen, eigentlich aber um ein individuelles Ganzes mit changierendem Komponentenspiel.
Recht straighte Struktur, dabei mundfüllend. Gut eingebundene, aber tragfähige Säure.
Zirkulierend, guter Nachhall.
27. August 2012
Die Cote d'Or Badens
Schuljahrgangstreffen - diese Veteranendinger, Wiedersehen nach 30 Jahren und alles – Minenfeld ist ein lockerer Trimmpfad dagegen. Glaub mir, du wirst deiner erste Freundin mit einem "sag
nichts, ich komm noch auf deinen Namen, aber irgendwie kriege ich dich gerade nicht so recht unter" ins Gesicht blicken (das Leben geht halt an keinem nur einfach freundlich grüßend vorbei) und
bekommst dieses leichte Schämrot dann den halben Abend nicht mehr aus dem Gesicht. Deine alten Kumpels werden sich als alternde Machos mit Torschlusspanik erweisen, die beim Anbaggern keine
Peinlichkeit auslassen. Und ziemlich früh am Abend schon wird irgendjemand damit anfangen, das garantiert Schlechteste der damaligen Songs aufzulegen, nur weil er meint, dass jegliche Diarrhöe
der Musikindustrie Kult wird, wenn sie nur lange genug in irgend einer Ecke vor sich hingegammelt hat. Dein damaliger Klassenlehrer taucht auf, der, den du damals schon alt fandst und der
rätselhafterweise noch immer an dieser Schule unterrichtet. Den Rest des Abends wirst du dich über "Brown girl in the ring" und Cliff Richards über den Tisch voller Pastareste anbrüllen und gegen
Mitternacht eine Nachzahlung leisten, weil der Pauschalbetrag aufgetrunken wurde.
Wenn du also deine Einladung zu so etwas im Briefkasten findest, schmeiß den Wisch weg. Ungelesen. Denk erst gar nicht drüber nach.
Schlimmer aber als das ist, wenn - nein, ich erzähle es dir anders.
Ich radele gerade durch die Siedlung am Wald, als jemand meinen Spitznamen mit einem kleinen fragenden Unterton hinter mir her ruft. Niemand nennt mich bei einem Spitznamen, schon gar nicht bei meinem. Nicht seit Ende der Schulzeit. Kein Wunder also, dass Pawlow die Hunde feilässt und Proust seine Madeleines nach mir wirft; sofortige Flashbacks, dann Rückblende, ich in den 70ern und ganz frühen 80er Jahren. Kein Film, den ich mir ansehen möchte: marodierende Hormone im Clinch mit intravenös verabreichtem Katholizismus. Klar, dass ich den Ruf automatisch ignoriere und weiter in die Pedale trete. Doch die Neugier fängt an die Hunde zu verjagen und die Madeleines aufzufuttern um dann zu allem Überfluss abzubremsen. So drehen wir also um.
Männlich, mein Alter, knielange Hosen, Strohhut über einem erwartungsfrohen Grinsen, Typ jüngerer Redford, zugedrehter Gartenschlauch in der Hand. Um ihn herum ein Florahabitat in gefühlter
Yellowstone-Größe. Der Nachname fällt mir ein: Esberg.
Wir hatten zusammen Musik in der Schule. Irgendwann behauptete er mal, er könne Kreuz- und B-Tonarten durch ihren Klang voneinander unterscheiden.
"Disberg!", rufe ich ihm zu und erhalte ein eher gequältes Lächeln als Quittung. Spitznamen sind nicht tot, sie riechen nur komisch.
Er war vor einem Jahr hergezogen. Vorher in Frankfurt. Davor lange in Oslo. Unternehmensberater eigentlich, aber vor allem Glücksritter an der Börse. "Bevor der Neue Markt zur alten Scheiße
wurde", sagt er grinsend. "Na los, rein mit dir. Auf ein Glas?"
Ich finde mich nach einem ordentlichen Fußmarsch zwischen Heckenpflanzen auf einer Terrasse mit Blick aufs Grüne wieder. Esberg war verschwunden um etwas aus dem Keller zu holen. Ein Wasserspiel
beginnt mit einem Rauschen in einiger Entfernung loszulegen. In Intervallen drücken Düsen Geysire aus einem Teich.
"Libra", sagt der wieder auftauchende Esberg mit einem Nicken in Richtung feuchte Fröhlichkeit und stellt einen 2006er Masseto und zwei Zalto Bordeaux auf den Tisch.
"Sein Sternzeichen, die Waage". Die Frau, irgendwo Ende Zwanzig, die in seinem Schlepptau aus dem Haus tritt, strahlt mich an. Irgendetwas sagt mir, dass es sich bei dem Blondschopf hier nicht um
Esbergs Tochter handelt. "Wir haben unsere Deckenlampen im Salon und den Brunnen nach seinem Sternbild anlegen lassen."
"Jaha, wer nicht!", jubele ich.
"Ich habe euch Kaffee gemacht, da könnt ihr über alte Zeiten …"
Sagt es und stellt bevor sie wieder abdreht ein Tablett mit zwei Tassen und einer Kanne, die aussehen wie im Schloss Sanssouci geklemmt, auf den Tisch.
Esberg schenkt Kaffee ein, deutet dabei auf den Masseto. "Du trinkst doch Wein?"
Ich nicke grinsend.
"Milch, Zucker?"
Irgendetwas läuft hier zwar mächtig schief, aber ich grinse immer noch und verneine.
"Der Petrus aus Italien." Esberg forscht in meinem Gesicht.
"Scheint ein internationales Franchise-Unternehmen zu sein, dieses Petrus", stichele ich, wiegele aber sofort mit hochgestellter Hand ab. "Schon klar."
Wir trinken einen Schluck Kaffee.
"99 Parker-Punkte. 98 Wine Spectator."
"Man sollte alle Punkte zusammenrechnen, spart Zeit und ist vor allen Dingen noch beeindruckender. Also Parker plus Spectator plus Gabriel plus Falstaff plus ..."
"Schon klar", diesmal von Esberg. "Sarkasmus?"
"Aber nein." Diesmal sicher.
"Und du, was machst du?"
Ich werfe ein paar Worte auf den Tisch - Musiker, Unterrichten -, die sich hier jedoch unwohl fühlen und heimlich, still und leise die Biege machen. Esberg sieht ihnen kurz nach und flüstert:
"Meine Frau ist in der Musikbranche. A&R." Meine Chance auf einen Spontananschlag, geht es mir durch den Kopf. Keine Verbindung, kaum Risiko. Aber man müsste sie alle auf einmal erwischen,
sonst bringt's nichts. Ich schüttele den Gedanken ab.
"24 Monate Barrique", holte mich Esberg endgültig in die terrassierte Wirklichkeit der Siedlung am Wald zurück und schenkt dabei noch einmal Kaffee nach.
Kaffee. Und wie hier etwas schief läuft.
"Habe ich zuerst im Big Apple probiert. Ein Kunde nahm mich mit ins Eleven Madison Park. Vertikaldegu. Kleine Runde. Na, der Spaß kostete ja auch ein paar Scheinchen, muss ein alter Mann viel für
Stricken, hörhörhör."
"Ich habe Masseto auch schon mal …", setze ich an, aber Esberg kommt gerade in Fahrt.
"Rarer Stoff. Super Investition. Bessere Rendite als auf dem Goldmarkt, wenn du es richtig anstellst. Macht locker mal 140% in drei Jahren. 2010 hat der im Vergleich zu 2009 einen Zuwachs von 41%
erzielt. Ein-und-vier-zig Pro-zent!"
"Der Waaahnsinn", steuere ich halbherzig bei.
"Bei Sothebys im Big Apple hat Masseto 2007 49.000 Dollar gebracht. War allerdings eine Nebukadnezar."
"Mit Pfand?" nuschele ich.
Aber Esberg ist nicht zu stoppen.
"Weißt du was ich bezahlt habe, gerade mal 500 Otten. Der hat echt alles. Als Kapitalanlage. Aber natürlich auch nur so. Also quasi als Wein."
"Wir fanden den vor ein paar Monaten in einer Blindprobe eigentlich …", versuche ich mein Glück, doch Esberg platzt los: "Super, nicht wahr. Suuuuper. Weiß jeder. Von Hong Kong …"
"… bis zum Big Apple" ergänze ich.
Tatsächlich war unsere Runde insgesamt nicht einhellig begeistert. Als Verdächtigen blind benannt hatte ihn zwar jemand – dennoch erstarrte niemand in Ehrfurcht. Ein erfolgsgewohnter Showmaster,
der etwas dick auftrug und es vorzog, etwas zu explizite Witze zu reißen.
"International der Num-ber One-Mer-lot!"
"Bernhard, denkst du an die Zeit?" flötet es aus dem Haus und Blondschopf tritt über die Maßen lächelnd in den Türrahmen. "Wenn er beim Wein sitzt, vergisst er einfach alles."
Esberg blickt auf die Uhr und steht auf.
"Oh shit, Alter. Ich muss los. Sorry, du. Man sieht sich!"
Nicht, wenn ich das irgendwie verhindern kann.
"Klar, Disberg. Und danke für den, äh, Masseto."
Unglaublicher Wein. Man muss ihn gar nicht öffnen.
Am heimischen Tisch setze ich mich zur Angetrauten. Sie schiebt mir ein Glas zu.
Wein. Endlich …
Ich rieche schwarze Beeren. Aronia fällt mir ein, obwohl mir beim zweiten Anlauf schwarze Kirschen fast besser gefallen – schon allein um nicht Freakpunkte zu kassieren. Ein wenig Eiche, oder
doch eher Erinnerungen an die Zigarrenkisten meines Großvaters. Veilchen sehe ich plötzlich, Hagebutten. Eine Spur Salbei ist vielleicht noch dabei.
Das meiste davon schmecke ich dann auch, die Kirsche behauptet die erste Stimme im Fruchtchor. Die Säure erinnert an die von dunklen Steinfrüchten und pulsiert schnell in den Zwischenräumen. Das
Tannin ist fein, mein Mund gut gefüllt. Und obwohl der Nachhall noch anhält, nehme ich gerne gleich einen zweiten Schluck.
Das Etikett zeigt "Alte Reben". Ein Spätburgunder von Berhard Huber. Aus 2009.
Sanfter Druck, Energie. Eine Ahnung guter Kakao, etwas Geröstetes kommt diesmal dazu. Vielschichtig, Freigiebig. Der hat noch ordentlich Perspektive. Kommt aber schon gut an.
Diesmal ist die Ahnung Salbei auch im Echo des Weines.
Der Salbei und der Kumpel a.D. Disberg, der sich ein wenig in meine Gedanken einmischt.
Welche Rendite der wohl hier ausrechnen würde?
Eher keine.
Vielleicht wenn mehr von der "Cote d'Or Badens" gesprochen werden würde. Im Big Apple.
20. August 2012
35 Grad im Schatten
von Andreas Bürgel
.
Aus dem geöffneten Dachfenster schräg gegenüber sägt eine nasaler Stimme eine
höchst individuelle Version von "Ring of fire". Immer nur die erste Strophe plus Refrain, zum sechsten Mal hintereinander.
Ein Ascona gibt quietschend Gummi. Der Typ in dem Auto und seine Frau hatten sich - und der Nachbarschaft - soeben all das auf die Ohren gebrüllt, was ihrer Ansicht nach wohl schon länger mal
raus musste; RTL live.
Ein sweet child im time auf dem Spielplatz kreischt über satte 20 Sekunden ein abendliches dreigestrichenes G, das Ian Gillan vor Neid ergrünen lassen würde. Die angehörige Mutter gibt rhythmisch
keifend einen Groove dazu - nein, keine Konkurrenz für Ian Paice. Die beiden Hunde auf der Terrasse juckt das nicht. Ebenso wenig wie die vorbei schleichende Katze mit dem tiefenentspannten
Gesichtsausdruck.
Jeder in der Vorstadt hat seine eigene Strategie mit der ungewohnten Hitze des gerade vergehenden Tages klar zu kommen.
Ich für meinen Teil schaue gerade dem dunklen Rubin mit dem ebenso dunklen Purpurrändchen in meinem Glas beim Haltungbewahren zu und sinniere träge einem irgendwann aufgegabelten Artikel
hinterher, in dem davor gewarnt wurde, dass Baden in Sekt zu einem ordentlichen Schwipps führen könnte. Da ich zu keiner rechten Antwort zu der in mir wallenden Frage komme, welche Badewannenform
einem fragileren Sektbouquet denn wohl am ehesten gerecht werden würde und ob hier vielleicht eine Marktlücke von Zalto übersehen wurde, wende ich mich anderen Dingen zu. Allerdings wird mir nach
einer ziemlichen Weile klar, dass sich jene Dinge irgendwo anders hin verzogen haben müssen, wahrscheinlich irgendwo hin, wo es kühler ist. Was für mich in Ordnung ist.
Wenn jetzt Mr. "Ring of fire" mit seinem elften Durchgang den entschwundenen Dingen noch folgen würde ... gerne auch für immer.
Waldbeeren mit hintergründigen Noten von Veilchen, eine Spur Nelke und flüchtig Süßholz steigen mir aus dem Glas, in dem das Rot tapfer die Stellung hält, in die Nase. Später sollen sich Kirschen
in den Vordergrund schieben. Gewürze, eine Waldpilznote, die sich jedoch bald verabschiedet.
Ich nehme einen Schluck.
Mittelgewicht, noch kompakt wirkend, dabei aber schon nach dem Mundraum greifend. Die Noten der Nase wiederholen sich, die Nelke fehlt jedoch.
Präsent.
Eine Spur Minze wird sich für kurze Zeit in den recht ordentlichen Abgang schleichen. Perspektive.
Um mich herum fängt es an zu dämmern.
Ruhig ist es geworden. Kein Gillan-Casting mehr, auch der Cash-Fan schweigt.
Ein leichter Luftzug erreicht mich.
Wer hat gesagt, dass man gegen Windmühlen kämpfen soll?
Moulin a vent – Jean-Paul Brun, Terres Dorées, 2009.
12. August 2012
Der Fernsehstar
von Andreas Bürgel
Er hatte "Fernsehstar" auf seine brandneuen Visitenkarten drucken lassen, seine ersten überhaupt. Schließlich war er mal Gast in einer Nachmittagspöbelshow eines Privatsenders. Und es war mit
"Meine übergewichtige Freundin hat mir meinen Vater ausgespannt" nicht irgend ein Allerweltsthema. Er hatte ein Recht auf den Titel, auch wenn es schon eine Weile her war, es war sein Titel,
jawohl: Fernsehstar. Und überhaupt, wenn diese dressierten Castingshow-Typen mit ihren Gartenabfallhäckslerstimmen "öffentliches Interesse" personifizierten, dann er doch wohl erst recht. An
diese Lackel, die irgendwann vor der Erfindung der Evolution in diesen Voyeurscontainern abhingen und in der Zeitung immer noch "Big-Brother-Stars" genannt werden, durfte er gar nicht denken.
Giganten an jeder Pommesbude, Titanen hinter jedem Smartphone. Gott sei Dank, morgen würden endlich die bestellten T-Shirts aus dem Copyshop an der Ecke kommen. Hatte er bedrucken lassen. Mit
seinem Konterfei. Vesteht sich.
Wer heute keinen findet, der ihn superlativiert, muss es eben selbst tun. Und zwar richtig, sonst wird das alles nichts. Umso erstaunlicher sind da Weine wie die von Veyder-Malberg. Unfrisiert,
nicht getuned, mit dem Rücken zum Getöse. Unaufgeregt pflegen sie eine geradezu überlegte Konversation, diese aber derart eindringlich, dass sie zu einer überlegenen wird. Lässt man sie ausreden
- nicht immer eine Selbstverständlichkeit - verblüffen deren Pointen regelmäßig. Luft brauchen sie. Und eine nur moderate Kühlung.
Obgleich es sich beim "Kreutles" um Veyder-Malbergs Produkt der Ebene, dem geographisch wie prestigemäßig unterhalb seiner Terrassen angesiedelten Wein handelt, lassen sich die für seine
Veltliner typischen rhetorischen Stilfiguren auch schon von ihm erfahren.
Headsetmikrofon, Beamer und Multimediapräsentation überlässt er hierbei gerne anderen.
06. August 2012
Das Bordeaux-Regal schien recht gut sortiert
von Andreas Bürgel
Der Mittzwanziger mit dem Franz-Ferdinand-T-Shirt davor eher weniger. Dieser Laden führe Taittinger und Bollinger beschied er mir. Und den Kaapse Vonkel von Simonsig, was das Gleiche wäre. Im Grunde. Nur billiger.
Ich nickte.
Obwohl diese Antwort gar nicht recht zu meiner Frage passen wollte. Und auch in sich nicht vollends stimmig war. Besagte Frage - die im Raum stand, Grimassen schnitt und sich bereits ein wenig zu langweilen schien - lautete, ob man mir einen Saumur Champigny anbieten könnte.
Nun weiß ich aus eigener Weinverkaufserfahrung in abhängiger Anstellung aus meiner Studentenzeit, dass so einigen Kunden die Weine rein aussprachlich im Halse stecken bleiben können und der eine oder andere schon mal gerne einen "Kotz dü Röhn" oder "Banderol" gezeigt bekommen möchte. Wer weiß also, was der Franz vor mir da so alles schon erleben musste. Saumur-Champagner? Ist drin.
Wie es hier denn so mit Loire-Weinen bestellt sei, hakte ich also ohne Umschweife nach und sah dem Mann bei einer inneren Inventur zu. Einen guten Pouilly-Fumé hätten sie wohl, meinte er resultierend. Und ich nickte wieder, denn das gab ganz beinahe einen Punkt. Rein sprachlich gesehen und natürlich vorausgesetzt, man würde dem Lösungsvorschlag "Fumé Blanc" in diesem Zusammenhang überhaupt einen positiven Einfluss auf die Wertung zubilligen.
Aber machen wir hier mal einen Schnitt. Denn ganz ehrlich: mich wunderte das Ganze so wenig wie schlappe 120 Kilo an einem Mann mit einem McDonalds-Treuepunkteausweis. Loire ist in puncto Wein in diesen Breiten - abgesehen von ein paar obligatorischen wie nicht selten zweifelhaften Sancerres - schlicht terra incognita. Loire-Cabernets sieht man in der Gegend hier in etwa so oft wie vegetarische Schützenfeste.
Um so unglaublicher, dass mir in Hannover (ja, das in Niedersachsen) ein Clos Rougeard in die Finger geriet.
Der "Les Poyeux" von 2007.
Logo, dass du bei dem reife schwarze Johannisbeeren, zum bersten pralle Heidelbeeren, schwere rotschimmernde Stachelbeeren im Clinch mit grüner Paprika und Basilikum finden kannst, denn das kannst du mit ein bissele Glück ja erwarten, hey, es ist Cabernet Franc. Die Ahnung Zigarrenkiste im Nachhall ist für dich auch kein Kulturschock. Was du aber nicht erwartest, nicht ahnen kannst, ist der Druck, die Dichte des Textes, die Architektur, der Stoff - und all dies bei einem klaren Bekenntnis zu Schattierungen und Details. Dazu addiere noch eine nicht gewöhnliche Länge.
Der Stoff rivalisiert locker mit einer Menge anderer Abendunterhaltungen.
Und mit dem gut sortierten Bordeaux-Regal allemal.
30. Juli 2012
Geister sind nicht jedermanns Sache
von Andreas Bürgel
Geister sind nicht jedermanns Sache. Es liegt, wie ich vermute, am Händedruck. Irgendwie wischiwaschi. Regelrechte Fanclubs haben die daher meist nicht zu vermelden, gefeiert werden die Armen
eher selten. Da ist es einfach mehr als nur gerecht, wenn mein Firefox mich – wie heute Vormittag geschehen - auffordert, da mal gegenzusteuern: "Feiere den weltweiten Gemeinschaftsgeist", rief
er mir munter entgegen, der Browser. Und auch wenn es sich hier meines Wissens ausgerechnet um einen Geist handelt, der stets verneint, so wollte ich mich diesem sicher gut gemeinten Aufruf nicht
verweigern.
Mein Partygetränk war der 11er Calcinaires von Gauby.
Flimmernd auf der Zunge, pikant, mit ribbelnden Tanninen. Momentan eine Rotzgöre von Wein. Tritt in der Farbe von Bischofssocken auf, mimt Brombeere, Cranberry, Aronia, Süßholz.
Und ist bestimmt auch für mehr als nur Ein-Personen-Geisterpartys zu haben …
26. Juli 2012
von Andreas Bürgel
Der Mann auf der Leiter im Hof kehrte mir den Rücken zu. War in seine Arbeit vertieft. Irgendetwas an der Mauer des Hauses musste instand gesetzt werden. Da musste ich wohl etwas vernehmlicher
parlieren: "Pardon Monsieur, est-ce qu'on peut acheter du vin?"
Ein Arbeitsgerät wurde neu angesetzt, die Blickrichtung verblieb gen Mauer.
Ich hatte davon gehört, dass die Franzosen ihre Sprache liebten. Bisweilen so sehr, dass falsche Artikulationen, Betonungen, Satzmelodien mit Missachtung gestraft würden. Nun, das hier musste so
ein Fall sein. Kein Wunder bei einem Typen wie mir, der Französisch als dritte Fremdsprache wahlfrei und "les enfants ont soif" irgendwie mit "besoffenen Elefanten" übersetz hatte.
Aber ich hatte geübt. Mehrfach, laut und vor dem Spiegel.
Moment – hier waren wir im Elsass, vielleicht anders betonen?
Also von Neuem.
Doch ohne Ergebnis.
Die Aussprache, irgendwie näselnder?
Null Reaktion.
Nun wurde ich doch ein wenig sauer, zuckte aber mit den Schultern – dann eben nicht - und wollte mich gerade gen Automobil trollen, als mich eine freundlich lächelnde junge Dame aufhielt.
Und aufklärte.
Über die Gehörlosigkeit des Mannes auf der Leiter.
Was mir einen Teil meines sprachenrelevanten Selbstbewusstseins wiedergab und – vielleicht bedeutender – die Möglichkeit eröffnete, nun doch Wein einzukaufen.
Damals, auf der Domaine Julien Meyer in Nothalten.
Nach Mitte der 80er war das.
Spätere Einkäufe folgten.
Dieser 2004er Pinot Gris ist bei mir ein wenig in Vergessenheit geraten. Aufgegeben hat er sich deshalb aber noch längst nicht.
Hinter feinem Schmelz zirpt verhalten die Säure. Lychee, Bratapfel, Physalis und Birne, gewürzt mit einer Muskatnote und ein wenig Pfeffer. Mittelgewicht mit adäquatem Nachhall, einigermaßen
Länge und einem respektablen Standvermögen.
Und der Fähigkeit, alte Geschichten wieder auszugraben."